Die Ausgangsbasis der SPD ist in diesem Jahr eine andere als bei der Bildung der großen Koalition vor vier Jahren. Aus dem ehemaligen Juniorpartner würde der Kanzlerinnenmacher werden, der im Gegenzug deutlich stärker seine Vorstellungen umsetzen könnte als vor der Wahl.
Eines der wichtigsten Anliegen der Sozialdemokraten ist die Einführung der Bürgerversicherung. Unterstützt werden sie dabei von der Linken und den Grünen. Union und FDP halten jedoch nach wie vor an dem zweigleisigen System der Krankenversicherung, Ersatzkasse auf der einen Seite, private Krankenversicherer auf der anderen, fest.
Was würde die Einführung einer Bürgerversicherung konkret bedeuten?
Schon seit vielen Jahren ist die „Zweiklassengesellschaft“ in der Gesundheitsversorgung vielen Politikern ein Dorn im Auge. Beamte, Selbstständige und besser Verdienende Angestellte haben die Option, sich privat zu versichern. Alle anderen können ihre Pflichtversicherung in der Ersatzkasse nur durch kostenintensive Zusatzversicherungen optimieren. Allerdings ist die Zahl der wechselwilligen Mitglieder in den Ersatzkassen stark rückläufig, ein Indiz, dass eine Bürgerversicherung in der Bevölkerung möglicherweise auf Akzeptanz stößt.
Dramatischer Einbruch bei der Migration von GKV zu PKV

Bringt die SPD das Thema „Bürgerversicherung“ in Sondierungs- oder gar Koalitionsverhandlungen ein, bekommt sie auch Rückendeckung von den Spitzenvertretern der Ersatzkassen. Die Union wiederum hat die Ärzteschaft und Versicherungslobby als Rückhalt. Die Einführung der Bürgerversicherung würde eine durchschnittliche Arztpraxis rund 50.000 Euro im Jahr an Honoraren kosten, so die „Pharmazeutische Zeitung“.
Sinkende Honorare würden allerdings, so die Befürworter der Bürgerversicherung, auch zu sinkenden Beiträgen führen. Immerhin kostet jeder Bürger das Gesundheitssystem in Deutschland monatlich 351 Euro, eine Zahl, die finanziert werden muss. Das Statistische Bundesamt ermittelte, dass satte 11,3 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung im Gesundheitssektor geschaffen wurden.
Verteilung der Aufwendungen für Gesundheitsmaßnahmen

Quelle: www.vdek.de
Die zentralen Punkte der Bürgerversicherung
- An Stelle des zweigleisigen Krankenversicherungssystems tritt die eingleisige Bürgerversicherung für alle.
- Alle Krankenversicherten werden Mitglieder in Bürgerversicherung. Allerdings räumt die SPD jetzt eine Wahlmöglichkeit für privat Krankenversicherte ein. Diese Wortwahl ist neu und würde bedeuten, dass die privaten Versicherer fortbestehen.
- Zusatzleistungen müssen weiterhin privat abgesichert werden.
Allerdings wird der Fortbestand für die privaten Versicherer kritisch. Mit der Wahlmöglichkeit kann es passieren, dass eine massive Migration der Mitglieder zurück in die Bürgerversicherung erfolgt. Die Folge wäre das Risiko massiv steigender Beiträge für die verbliebenen privat versicherten Personen, da gesunde Versicherte mit hohen Prämien in die Bürgerversicherung wechseln.
Die Bürgerversicherung bedeutet gravierende Änderungen im Gesundheitssystem
Der Forderungskatalog von SPD, Linke und Grünen ist nicht einheitlich aufgestellt, sähe in der Summe aber folgendermaßen aus:
- Eine Versicherung für alle ohne gesonderte Privatleistungen. Der Leistungskatalog entspricht dem der Ersatzkassen heute.
- Es besteht für die Bürgerversicherung ein Aufnahmezwang. Privat Versicherte können jederzeit Wechseln.
- Freiberufler und Selbstständige müssen auch Beiträge entrichten.
- Kapitalerträge und Mieteinkünfte sollen auf die beitragspflichtigen Einnahmen angerechnet werden.
- Die Krankenkassen behalten das Recht, ihre Beiträge selbst festzulegen. Die Option wäre ein Wettbewerb unter den Anbietern.
- Die Bürgerversicherung sieht weiterhin die kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern vor.
- Die Zukunft der Beitragsbemessungsgrenzen bleibt allerdings ist offen. Dies gilt auch für die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze.
- Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen die Beiträge künftig wieder hälftig tragen, was eine Mehrbelastung der Unternehmen bedeutet. Bisher zahlen Arbeitnehmer die Sonderumlage selbst.
Durch die Rückkehr zahlreicher privat Krankenversicherer, die bislang noch keine medizinische Leistung in größerem Umfang benötigen, könnte die Bürgerversicherung unter Umständen sogar günstiger werden, als die bisherige GKV.
Entwicklung der Beitragsbemessungsgrenze

Quelle: www.vdek.de
Konfliktpotenzial Altersrückstellungen
Die rund acht Millionen Versicherten in der privaten Krankenvollversicherung haben aus ihren Beiträgen Altersrückstellungen gebildet, die sie bei einem Wechsel in die Bürgerversicherung mitnehmen können müssten. SPD, Linke und Grüne sehen dies auch so vor.
Zusammen mit den 25 Millionen Beitragszahlern in den Ersatzkassen beläuft sich das Volumen der Altersrückstellungen auf 233 Milliarden Euro, Stand Dezember 2016. Über diese Zahl und die Verteilung müsste verhandelt werden.
Vorteile und Nachteile der Bürgerversicherung
Wie bei allem gibt es auch bei der Bürgerversicherung zwei Seiten der Medaille. Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer der Bürgerversicherung?
Die Vorteile
- Privat Krankenversicherte könnten ohne Probleme aus den teilweise sehr teuren privaten Verträgen in die preiswertere Bürgerversicherung wechseln. Die SPD geht von einer Wechselquote von 70 Prozent aus.
- Durch die Einbindung von Selbstständigen und Beamten könnte der Beitragssatz zunächst sinken.
- Beiträge orientieren sich am gesamten Einkommen ermittelt. Für Geringverdiener könnte dies eine Entlastung bedeuten.
- Mit sinkendem Beitragssatz würden die Lohnnebenkosten für die Unternehmen sinken.
- Die unterschiedlich bevorzugte Behandlung beim Arzt würde durch die gleichen Leistungen entfallen.
Die Nachteile
- Die schwindenden Einnahmen der PKV könnten zur Existenzbedrohung für diesen Versicherungszweig werden.
- Im schlimmsten Fall wären 50.000 Arbeitsplätze bei den PKV-Anbietern überflüssig.
- Die Einnahmen für Ärzte und Krankenhäuser sinken, da die Zuschläge für Privatpatienten entfallen.
- Versicherungsmakler geraten in finanzielle Miseren, da kaum noch Personen in die PKV wechseln würden.
- Arbeitgeber sollen je Mitarbeiter(in) steigende Beiträge in Kauf nehmen.
- Privatpatienten erhalten keine Vorzugsbehandlung mehr. Auf der anderen Seite sinken ihre Beiträge.
- Wird die Beitragsbemessungsgrenze angehoben oder abgeschafft, müssen Spitzenverdiener mit deutlichen höheren Beiträgen rechnen.
- Es steht zu befürchten, dass ein Einheitssystem über die Rationierung von Leistungen die Kosten begrenzt. Zusatzversorgungen müssen die Patienten aus eigener Tasche bezahlen.
- Der fehlende Wettbewerb zwischen PKV und GKV lähmt medizinische Innovationen.
Wie stehen die Chancen für eine Bürgerversicherung tatsächlich?
Die anstehenden Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD werden zeigen, wie vehement die Sozialdemokraten die Einführung der Bürgerversicherung vorantreiben wollen.
Aber selbst wenn die Union sich darauf einlässt und ein entsprechendes Gesetz von der möglichen großen Koalition auf den Weg gebracht wird, bleibt die Hürde des Bundesrates. Und hier ist davon auszugehen, dass die CDU-geführten Länder, auch unter Mithilfe der Liberalen, diesem Modell eine Absage erteilen.
Fotos: fotohansel | stock.adobe.com
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